Ich halte nicht viel von Hilfsorganisationen. Auch Kunst macht mich nicht besonders an und lange Texte hasse ich sowieso. Diese Sache aber macht mich sprachlos. Bitte komplett durchlesen. Lohnt sich.
Enjoy.
Wie manche von Euch schon wissen haben wir (Simon, Paul & Hanno) diesen Sommer ein paar Wochen zusammen in Neapel verbracht. Dort haben wir im „Problemviertel“ Scampia, bekannt geworden durch das Buch und den Film „Gomorrha“, einen Singvogel über vier Stockwerke eines Gebäudes gemalt, das als die Hochburg des Drogenhandels in Italien bekannt ist. Da uns das dort Erlebte tief beeindruckt hat und wir, wieder zurück in Deutschland, auf großes Interesse dafür gestoßen sind, schreiben wir diese Mail. Für diejenigen, die mehr wissen wollen, gibt es im Folgenden eine Beschreibung der in Scampia herrschenden Zustände, sowie einen Erfahrungsbericht, der Einzelheiten unserer Aktion beschreibt. Im Anhang finden sich außerdem ein paar Fotos.
Neapel, Scampia, le vele – was ist überhaupt das Problem?
Neapel, die Hauptstadt der Provinz Kampanien kämpft mit den selben Problemen wie weite Teile Süditaliens. Die sozio-ökonomische Situation der Großstadt ist geprägt von hoher Arbeitslosigkeit, einer großen Bedeutung des informellen Wirtschaftssektors, infrastrukturellen Defiziten, tief greifender Korruption und der Vorherrschaft mafiöser Strukturen. Eine Besserung ist nicht in Sicht, staatliche und EU-Subventionen versickern oder werden in irrsinnigen Bauvorhaben vergeudet.
An kaum einem Ort tritt diese vielschichtige Problematik so deutlich zu Tage wie in Scampia. Das Viertel wurde in den 1970er bis 1990er Jahren in der nördlichen Peripherie Neapels gebaut, wo vorher nur Felder waren. Auf 4 km² sind ca. 62.000 Einwohner registriert. 50% – 75% der Erwerbsfähigen sind ohne Arbeit. In diesen Zahlen sind z.B. die 1.600 Roma, die in zwei Camps leben noch nicht einmal eingerechnet.
Scampia ist vermutlich der größte Drogenmarkt Europas, es ist kaum möglich eine legale Arbeit zu finden. Der Verlockung, als Aussichtsposten oder Drogenkurier schnelles Geld zu verdienen, können viele Heranwachsende und junge Männer nicht widerstehen. Von ihnen werden viele noch vor der Volljährigkeit zu Gefängnisstrafen verurteilt oder ermordet.
Ein besonders berüchtigter Wohnblock in Scampia sind le vele (die Segel, wegen ihrer Dreiecksform). Weit über die Stadtgrenzen Neapels hinaus erlangten sie traurige Berühmtheit als Sinnbilder für eben jene sozialen Missstände, für Gewaltkriminalität und Drogenhandel. Doch seit in den vele vor ein paar Monaten viele Verhaftungen durchgeführt und damit der Drogenhandel eingedämmt wurde, gibt es für die Menschen keine Sicherheit und keine Arbeit mehr. Wer die Möglichkeit dazu hat, geht weg. International bekannt sind die vele hauptsächlich durch den Kinofilm „Gomorrha“, der zu einem großen Teil in der vela gialla (gelbes Segel) spielt und auch dort gedreht wurde.
Der öffentliche Diskurs über Scampia, der das Viertel als bruta zona, etwa als „hässliche Gegend“, stigmatisiert, ist geprägt von Vorurteilen gegenüber der lokalen Bevölkerung. Das Gefühl von Ausgegrenztheit und Scham führt nicht selten zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben und einer allgemeinen Entwicklungsblockade. Darunter leiden die Bewohner der vele besonders stark, da diese von den Medien seit Jahren zum Symbol für die malavita (Unterwelt, Verbrechertum) Scampias gemacht wurden.
Paul in Neapel
Nachdem ich meinen Sprachkurs in Mailand abgeschlossen hatte, war meine Vorstellung von Italien noch nicht befriedigt. Ich wollte in den Süden, noch ein anderes Italien kennen lernen.
Über einen Freund knüpfte ich Kontakte zu „Chi rom e chi no“ (http://chiromechino.blogspot.com/) einer Organisation, die in Scampia seit Jahren Jugendarbeit leistet. Ich begann bei „Chi rom e chi no“ mitzuhelfen. Beim Spielen mit den Kindern wurde mir schnell klar, wie sehr sich die Lebensumstände dieser Kinder von denen meiner kleinen Schwestern in Tübingen unterschieden.
Ein neunjähriger Junge erzählte mir, dass sein Vater und Bruder tot seien, dass ihnen das Blut aus vielen Löchern in Körper und Kopf gelaufen sei und dass seine Cousins im Gefängnis seien. Er erzählte mir, dass das alles nur wegen den Drogen sei, obwohl diese giftig seien,würden sich die Leute wegen ihnen gegenseitig töten. Häufig wurde ich gefragt, ob das Gefängnis weit weg sei, von dem Ort an dem ich in Deutschland lebe. Zuerst verstand ich die Frage nicht, bis ich begriff, dass für viele Kinder Scampias das Gefängnis einfach der Ort ist, an dem sie ihre Väter besuchen, wenn diese noch am Leben sind.
Täglich erfährt man von vielen schrecklichen Dingen, die auf der Welt geschehen, doch Kinder von diesen Dingen reden zu hören und zu realisieren, dass sie all das wirklich erlebt haben, kann einen nicht kalt lassen. Am erstaunlichsten ist für mich, wie diese Kinder gelernt haben mit der Situation zu leben. Wie alle Kinder wollen sie Spaß haben, sich austoben und Fußball spielen.
Also spielte ich mit ihnen Fußball und lernte sie so besser kennen. Sie zeigten mir ihr Viertel, nahmen mich mit zu sich nach Hause und stellten mich ihren Verwandten vor.
Angelo, ein 14-jähriger Junge zeigte mir seine vela: In den oberen Stockwerken sind alle Wohnungen verlassen. Bei vielen fehlen die Treppen, die ein Betreten der Wohnung erst möglich machen würden. Die Kommune entfernt diese, um zu verhindern, dass neue Leute einziehen, denn die vele sollen in ein paar Jahren abgerissen werden.
Die Appartments, die man betreten kann, erzählen unzählige Geschichten. Müllberge häufen sich, verstaubtes Spielzeug, umgestoßene Möbel, gebrauchte Spritzen liegen herum. Vereinzelt hängen noch Poster an den Wänden, auf denen die Idole und Heiligen der ehemaligen Bewohner zu sehen sind. In manchen Schränken befinden sich noch Kleidungsstücke, in Küchen findet man kiloweise Pasta und Dosentomaten. Die Menschen, die hier wohnten, scheinen fluchtartig weggezogen zu sein. In vielen Türen und Fenstern sind Einschusslöcher zu sehen. Treppenhäuser sind einfach zugemauert, um der Polizei das Eindringen zu erschweren. Aus undichten Leitungen tropft Wasser bis in die Tiefgarage. Das Tropfen vereint sich zwischen den beiden Flügeln der vela mit den Schreien der Mütter, die ihre Kinder zum Essen rufen zu einer sehr merkwürdigen Geräuschkulisse, die das unbehagliche Gefühl, das man beim Betreten der vela hat, noch verstärkt.
Die vele faszinierten mich wie kein anderer Ort in Scampia. Die Tragik der gesamten Region ist an diesen Wohnblocks ablesbar. Mit einer Gruppe von Kindern bemalte ich ein leergeräumtes Appartment in der vela gialla. Bevor ich nach Deutschland zurückkehrte, malte ich eine fünf Stockwerke hohe Blume, die die Fassade der vela rossa (rotes Segel) erklimmt, um zu zeigen, dass es möglich ist, in den vele etwas zu verändern.
„Il Cardillo“ – Simon, Paul & Hanno in Scampia
Ende August 2009 kam ich nach Neapel zurück, dieses Mal zusammen mit Hanno und Simon. Wir fanden die Situation in Scampia unverändert vor.
Zwei Wochen lang malten wir fast jeden Tag in den vele auf Balkonen, in Treppenhäusern und leerstehenden Wohnungen. Wenn wir mit unseren Farbeimern, Pinseln und Sprühdosen auftauchten, kamen Kinder angerannt und fragten uns, ob wir die Blume und die anderen Bilder gemalt hätten. Sie baten uns, auf ihrem Stockwerk im Treppenhaus oder auf ihrem Balkon zu malen. Schnell hatte es sich herumgesprochen, dass da drei Deutsche seien, die alles anmalten.
In uns entstand der Wunsch noch etwas zu machen, das auch die Leute sehen können, die nicht in den vele leben. Etwas für ganz Scampia.
Dieses Mal hatten wir uns die vela celeste (himmelblaues Segel) ausgesucht. Diese sieht man perfekt von der großen piazza Scampias und somit auch vom „Mammut“, einem Kulturzentrum, das Workshops, Ferienprogramme und Beratung zu allen erdenklichen Lebenssituationen für die Kinder und Jugendlichen Scampias bietet. Da die oberen Stockwerke der vela fast komplett leerstehen, war es naheliegend, dort die Fassade zu bemalen, auch wenn wenn man sie teilweise nur durch klettern erreicht.
Der cardillo (Stieglitz, Distelfink) ist ein Vogel, der in der neapolitanischen Kultur eine große Rolle spielt. Er kommt in Musik, Literatur und Film vor, dabei sieht man ihn stets in einem winzigen Käfig, selten fliegend. Wegen seines schönen Gesangs wird er im Käfig neben Kinderbetten gestellt, um die Kinder in den Schlaf zu singen. Aufgrund der großen Nachfrage wird der geschützte cardillo in der Natur gefangen und auf dem Schwarzmarkt verkauft.
Der Cardillo hingegen, den wir auf die vela celeste gemalt haben, ist aus seinem Käfig geflohen, er breitet seine Flügel aus um loszufliegen. Der Betrachter, der sein Auge auf die vele richtet, ist auf alles gefasst, außer auf ein solches Wandbild. Viele unserer italienischen Freunde, welchen wir Fotos davon zeigten, hielten es automatisch für eine Collage. Denn es erschien ihnen unmöglich, dass drei hilflose Deutsche, die nicht einmal des neapolitanischen Dialekts mächtig sind, an diesem verruchtesten aller Orte Italiens einen Vogel von vier Stockwerken Höhe malen.
Allein diese Tatsache ist ein Lichtblick für Scampia und die Bewohner der vele.
Die Umsetzung des Cardillos wurde nur möglich, durch die Unterstützung eines großen Teils der Bewohner der vele. Diese freuten sich darüber, dass jemand versuchte Farbe an das Gebäude zu bringen, das die meisten von ihnen am liebsten sofort verlassen würden. Oft wurde uns gesagt, dass wir etwas bis vor wenigen Monaten unvorstellbares realisiert hätten. Vor allem die Kinder zeigten sehr großes Interesse an unserem Projekt, stellten Fragen, lobten oder bedankten sich bei uns und applaudierten während wir malten.
Die durchweg positive Rückmeldung seitens der Bevölkerung Scampias und derer, die seit Jahrzehnten versuchen, durch meist ehrenamtliche Arbeit das Fundament für Verbesserungen zu schaffen, ermutigt uns, möglichst bald wieder nach Neapel zu fahren. Freunde wieder zu treffen und zusammen mit der lokalen Bevölkerung weitere Projekte anzupacken.
Gleichzeitig ist es auch wichtig, bekannt zu machen, dass es nicht nur das Scampia gibt, das Roberto Saviano in seinem Buch „Gomorrha“ und Matteo Garrone in der Verfilmung des Buchs richtig aufgezeigt haben, sondern, dass es auch möglich ist in Scampia Ideen zu verwirklichen, die das Potenzial haben etwas zu verändern. Unsere Erfahrungen haben uns gezeigt, wie dankbar die lokale Bevölkerung positive Impulse aufgreift und wie freundlich man empfangen wird, wenn man so vorurteilsfrei wie möglich auf die Menschen zugeht. Diese Erfahrungen wollen wir weitergeben, denn ein wichtiger Schritt, der eine Verbesserungen der Lebensumstände für die Bewohner Scampias erst möglich macht, ist die symbolische Aufwertung ihres Viertels. Deshalb halten wir es für notwendig eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen.
Falls Ihr gute Ideen habt, wie man dieses Projekt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen, kommende Projekte fördern könnte oder Ihr mehr wissen wollt freuen wir uns, wenn Ihr Euch bei uns meldet. Diese Mail könnt Ihr gerne an Bekannte weiterleiten, die sich für das Thema interessieren.
Viele Grüße,
Simon, Paul & Hanno
Danke Erik.
nice da wird sich der erik freun, das liegt ihm ja schon am herzen 🙂 hoffentlich sieht ers auch
mir liegt es auch am herzen…
saugut. die typen haben wahrscheinlich keine seite, oder?
nein soweit ich weiß nicht… die sache ist auch eine weile her… ich weiß nicht was sie aktuell an der sache machen, aber ich frag mal und sag dir bescheid…
woow!!
Suuuuper Sache!!! Gratuliere!
Ich kenne Napoli seit fast 20 Jahren und liebe es. Bin momentan für 3 Wochen hier. Morgen möchte ich nach Scampia fahren und mir das ansehen.
cool freut mich